Im Nordosten der zweiten Insel erhob sich ein massiver, quadratischer Turm mit einer Grundfläche von 10 mal 10 Metern. Seine sieben Geschosse machten ihn zum dominanten Element der früheren Wehranlage. Die Höhenrekonstruktion des Bergfrieds der Burg Angern lässt sich auf Grundlage der bekannten Grundfläche und der Überlieferung von sieben Stockwerken annähernd bestimmen. Typische hochmittelalterliche Bergfriede wiesen lichte Raumhöhen von etwa 3,0 bis 3,5 Metern auf, ergänzt um Decken- und Mauerstärken von circa 0,5 bis 0,7 Metern pro Geschoss. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Geschosshöhe von etwa 3,5 bis 4,0 Metern. Multipliziert mit sieben Etagen ergibt sich eine Turmhöhe von etwa 24,5 bis 28 Metern, zuzüglich der Höhenanteile für eine Wehrplatte, Brustwehr oder eventuelles Zeltdach. Somit dürfte der Bergfried von Angern eine Gesamthöhe von etwa 26 bis 30 Metern erreicht haben, vergleichbar mit anderen regionalen Anlagen wie dem Bergfried von Tangermünde oder Lenzen. Diese Rekonstruktion verdeutlicht die imposante Dominanz des Turmes innerhalb der Burganlage und seine zentrale Rolle im Verteidigungssystem.
KI generierte Ansicht des Bergfrieds der Burg Angern ca. um 1600
Die Mauerstärken betrugen im Sockelgeschoss rund 1,5 Meter, die Gesamthöhe kann auf etwa 22 Meter geschätzt werden. Der Turm, ursprünglich als Bergfried konzipiert, wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg in die Wohnfunktion überführt: Ein bewohnbares Zimmer im oberen Bereich ist für das späte 17. Jahrhundert belegt (vgl. Publikation Angern, S. 5). Die Erschließung erfolgte zunächst vermutlich über das erste Obergeschoss mittels Holztreppe oder Steg.
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die bauliche Beobachtung, dass im heutigen Kellerraum des Ostflügels – ursprünglich das erste Obergeschoss des mittelalterlichen Baus – noch eine Schießscharte erhalten ist. Dieser Befund bestätigt die ursprüngliche Verteidigungsfunktion dieses Geschosses und macht deutlich, dass das Niveau des heutigen Erdgeschosses gegenüber dem mittelalterlichen Zustand erheblich verändert wurde. Die Schießscharte ist ein typisches Element hochmittelalterlicher Wehrarchitektur und lässt Rückschlüsse auf den frühzeitigen Ausbau der Anlage zur Verteidigung gegenüber der Vorburgseite zu. Der Zustand des Turms wurde im Vorfeld des barocken Umbaus 1735 als baufällig beschrieben: Er sei „mehr schädlich als nützlich“ (ebd.).
Der Aufbau eines solchen spätmittelalterlichen Bergfrieds folgte einem funktionalen Vertikalschema, das sowohl Wehr- als auch Repräsentations- und Lagerfunktionen integrierte. Das unterste Geschoss war meist ein massiv gemauerter, tonnengewölbter Raum mit äußerst begrenzter Belichtung. Im Fall von Angern ist hier eine erhaltene Schießscharte nachweisbar, was belegt, dass der Turm bereits im Sockelgeschoss zur aktiven Verteidigung diente. Dieser Raum war in der Regel nur schwer zugänglich, diente als Lagerraum, Notunterkunft oder Wehrkammer und war durch seine massive Bauweise besonders widerstandsfähig. Das erste Obergeschoss, ursprünglich über eine Außentreppe oder hölzerne Brücke erschlossen, bildete den Hauptzugang und diente als Wach- oder Wohnraum. Die mittleren Stockwerke enthielten weitere Kammern, möglicherweise mit Heiz- oder Kochstellen, während die oberen Geschosse der Fernsicht und Verteidigung vorbehalten waren. Dort befanden sich häufig Scharten oder – in späterer Nutzung – vergrößerte Fenster. Der Turm erfüllte damit zugleich militärische, wirtschaftliche und symbolische Funktionen und bildete den baulichen und herrschaftlichen Nukleus der Gesamtanlage. In der frühen Neuzeit wurden viele Bergfriede, so auch in Angern, baulich umgenutzt, wobei einzelne Geschosse mit Dielen ausgestattet oder zu Lagerräumen umgewidmet wurden.
Querschnitt des Bergfrieds der Burganlage Angern (Annahme)
Der isolierte Bergfried – Funktion und Zugang in der Burgenarchitektur des 14. Jahrhunderts
Die bauliche Verbindung zwischen der Hauptburg und dem auf einer eigenen Insel gelegenen Bergfried erfolgte mit hoher Wahrscheinlichkeit über eine erhöhte, fest installierte Zubrücke, die direkt in das erste Obergeschoss des Turms führte. Diese Konstruktion entsprach dem gängigen Verteidigungsschema spätmittelalterlicher Wehrbauten: Während das Erdgeschoss des Turms über Schießscharten verfügte und primär defensiven Zwecken diente, war der eigentliche Zugang bewusst in das erste Geschoss verlegt – erhöht und nur über eine Brücke erreichbar. Solche Brückenzugänge sind aus zahlreichen Vergleichsanlagen belegt², etwa bei der Neuenburg in Freyburg („Dicker Wilhelm“) oder der Burg Hanstein in Thüringen. In beiden Fällen war der Zugang ursprünglich nicht ebenerdig, sondern erfolgte über einen festen, nicht beweglichen Steg oder eine gemauerte Rampe. Auch in Angern spricht die Lage der erhaltenen Schießscharte im Erdgeschoss und die historische Geländetopografie für diese Lösung. Eine bewegliche Zugbrücke, wie sie an Torburgen Verwendung fand, ist hier hingegen architektonisch unwahrscheinlich. Die Zubrücke verband somit den funktionalen Wirtschaftshof der Hauptburg mit dem befestigten Rückzugsraum des Turms und stellte ein zentrales Element der inneren Sicherheitsarchitektur der Gesamtanlage dar. Die Zubrücke diente zur Versorgung, Lagererschließung sowie als möglicher Rückzugsweg im Verteidigungsfall.
Rest des 7-stöckigen Bergfrieds mit Schießscharte
Die Wasserburg weist mit ihrer separaten Turminsel eine bauliche Eigenheit auf, die in der mitteleuropäischen Burgenarchitektur des 14. Jahrhunderts als außergewöhnlich gelten kann. Der Zugang zum Bergfried erfolgte nicht direkt, sondern ausschließlich über die Hauptburginsel und war nur über eine schmale Zubrücke erreichbar. Die Anlage bestand zur Mitte des 14. Jahrhunderts aus drei klar getrennten Bereichen:
- der Vorburg mit Wirtschaftsgebäuden,
- der Hauptburginsel mit Palas und Wohngebäuden,
- und der Turminsel mit dem isolierten Bergfried.
Letzterer war durch einen Graben von der Hauptburg getrennt und nur über eine interne Brücke erreichbar. Hinweise hierzu liefert ein "Memoire" aus dem Jahr 1745, in dem General Christoph Daniel von der Schulenburg erwähnt, dass der heute noch vorhandene Graben zwischen Hauptburg und Turminsel nicht zugeschüttet wurde, sondern erhalten blieb (vgl. "Publikation Angern" 2022, S. 8). Dies legt nahe, dass die Trennung bis ins 18. Jahrhundert bestand und ihren Ursprung deutlich früher hatte.
Aus Sicht des Bergfrieds stellt sich die Verbindung zur Hauptburg als funktional wie symbolisch klar hierarchisiert dar. Die Turminsel war nicht autonom zugänglich, sondern vollkommen auf die interne Erschließung über die Hauptburg angewiesen. Eine direkte Brücke vom Festland bestand nicht. Auch ein Eingang auf der dem Festland zugewandten Seite (z. B. West- oder Südseite) ist nicht nachgewiesen und wäre der Reduit-Logik widersprochen.
Die wahrscheinlichste Zugangssituation ergibt sich über die Westflanke des Bergfrieds: Eine schmale Brücke führte möglicherweise von dem südlichen Wehrgang der Hauptburg über den Wassergraben direkt zur westlichen Turmseite. Diese Position hätte aus Sicht des Turms zwei Vorteile: Erstens, der Zugang war nicht frontal einsehbar, sondern seitlich gedeckt. Zweitens, die Brücke hätte relativ kurz ausfallen können (ca. 4 bis 5 m), ohne statische Probleme zu erzeugen. Da Bergfried und Palas beide etwa 10 Meter breit waren und in einer baulichen Fluchtlinie lagen, kann ein Zugang an der Nordseite nicht vom Wehrgang aus erreicht worden sein.
Die Schießscharte in der Nordwand: Eine bemerkenswerte bauliche Besonderheit des Bergfrieds stellt die erhaltene Schießscharte in der Nordwand des Erdgeschosses dar. Sie liegt etwa zwei Meter über dem heutigen Geländeniveau und ist auf die Hauptburgseite ausgerichtet. Ihre Funktion war vermutlich die gezielte Überwachung des unmittelbaren Vorfeldes, insbesondere der vermuteten Brückenzone zwischen Hauptburg und Turminsel. Aufgrund ihrer Lage diente sie nicht der aktiven Gefechtsführung, sondern war als Sicherungselement konzipiert: ein Verteidiger im Inneren konnte aus erhöhter Position Bewegungen im Grabenbereich oder auf der Brücke beobachten und im Bedarfsfall mit Fernwaffen eingreifen – bei gleichzeitig maximaler Deckung. Die Schießscharte erfüllte damit eine Doppelfunktion als passives Verteidigungselement und als Symbol militärischer Präsenz in Richtung der Hauptburg. Ihre Positionierung unterstreicht zudem die Trennung zwischen Wohn- und Rückzugsbereich und zeigt, dass der Bergfried jederzeit auf eine eigenständige, wenn auch begrenzte Selbstverteidigung vorbereitet war.
Das Innere des Bergfrieds – so zeigen archäologische Befunde – war vermutlich über eine innenliegende Wendeltreppe oder einfache Holzleitern erschlossen. Ein schwerer Riegel sicherte die Eingangstür. Auf mehreren Geschossen verteilten sich einfache Lagerräume, Wachnischen, ein Wehrgeschoss und ein Beobachtungspunkt auf dem Dach. Eine Schieÿscharte auf der Nordseite etwa zwei Meter über Bodenniveau deutet darauf hin, dass Sichtkontakt zur Brückenzone bestand, was für eine passive Kontrolle des Zugangs spricht.
Topologie der Burg mit Zugang zum Bergfried (oben Süden, unten Norden)
Zur Erhaltung der Gewölbe ist überliefert
1650 wird die Kirchenvisitation im Hause Heinrich Hartwig von der Schulenburg abgehalten. Ein größeres Wohnhaus scheint nicht vorhanden gewesen zu sein. Dafür werden aber die vier Keller (siehe Abbildung) und der alte Turm erwähnt, von dem es heißt:
„... worinne zwar viel Zimmer erbauet, alldieweil aber derselbe allenthalben, absonderlich im Fundament, sehr baufällig und viel zur Reparatur kosten möchte, auch dem Besitzer fast mehr schädlich als zuträglich ..." (Quelle: Dorfchronik Angern).
In den Berichten von Christoph Daniel von der Schulenburg (Rep. H Angern Nr. 412) wird detailliert geschildert, wie die baulichen Herausforderungen und der Zustand des Turmgewölbes bewertet wurden:
„Sonsten ließ ich auch die in dem Turmgewölbe gehabten Sachen hervorbringen, welche in ungemein schlechten Stande angetroffen, die Hälfte vom Leinzeuge ist verdorben.“
Aufgrund der baulichen Notwendigkeiten musste das geplante Geländeniveau vor dem Schloss abgesenkt werden, was das Turmgewölbe gefährdete:
„Dieser Fehler verursacht, dass der Hof vor dem Haus verniedrigt werden muss, wodurch das Turmgewölbe nebst dem dabei stehenden Keller eingebrochen und verschüttet werden muß, maßen sonst der Platz nicht zu erniedrigen.“
Ursprünglich war geplant, das Gewölbe und den angrenzenden Graben vollständig zuzuschütten. Ein Bericht vom 18. November 1737 (Quelle: Rep. H Angern Nr. 4) zeigt jedoch, dass es Alternativen gab:
„Nach vielem Überlegen [hat man] gefunden, daß der kleine Graben sowohl als die Gewölbe können konserviert werden, auf die Maße, daß man die Decke derer Gewölbe ganz wieder neu schlüge und solche niedriger mache.“
Die Landbaumeister versicherten, „daß solche nicht gar zu klein und noch brauchbar sein würden.“
Christoph Daniel selbst äußerte jedoch Zweifel an den Empfehlungen der Fachleute:
„Allein ich verlasse mich nicht mehr auf dieser Herren Parole und will also … hinaus nach Angern und ausmessen.“
Trotz der abschließenden Einschätzung des Maurermeisters Böse am 22. Januar 1738 (Rep. H Angern Nr. 7)
„Böse sei aber der Meinung, es wäre unpracticabel, die alten Keller behalten zu wollen",
wurden die Kellergewölbe und das Turmgewölbe erhalten. Das Turmgewölbe wurde erfolgreich in den später errichteten Ostflügel integriert. Dieser Schritt war ein bewusster Versuch, die historische Substanz der mittelalterlichen Burg mit der neuen barocken Schlossanlage zu verbinden.
Das erhaltene Erdgeschoss des Turms zählt somit gemeinsam mit den Gewölben der Burg zu den wenigen Relikten der ursprünglichen Burg und stellt eine wichtige Verbindung zwischen der mittelalterlichen und der barocken Bauphase der Anlage dar. Christoph Daniel von der Schulenburgs Entscheidung, dieses Gewölbe zu bewahren, zeugt von seinem Engagement, bauliche Herausforderungen mit dem Wunsch nach Erhalt der historischen Elemente in Einklang zu bringen. Die erhaltenen Dokumente verdeutlichen nicht nur die technische Problematik, sondern auch die persönliche Verantwortung, die er für das kulturelle Erbe der Burg Angern übernahm.
Fußnoten
¹ Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegeplan Neuenburg, 2008; Thüringisches Landesamt für Denkmalpflege: Führungsbroschüre Burg Hanstein, 2011.
² Werner, Ernst: Burgen der Sächsischen Schweiz, Dresden 1993; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: Baudenkmäler Oberfranken, 2005.
Quellen
- Kühn, Markus: Burg und Herrschaft. Der mittelalterliche Adelssitz in Mitteleuropa. Darmstadt: WBG, 2008. Beschreibung der vertikalen Nutzung von Türmen (Verlies, Wohnraum, Wachgeschoss, Wehrplattform).
- Boockmann, Hartmut: Die Burgen im deutschen Sprachraum – Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 2002. Darstellung des Funktionswandels von Bergfrieden vom Wehrturm zum Wohn- und Symbolbau.
- Meier, Helmut: Burgentypologie in Mitteleuropa. In: Burgen und Schlösser, Jg. 45 (2004), Heft 1, S. 3–15. Strukturanalyse von Grundrissformen und Geschossaufteilung bei Turmbauten.
- Ziesemer, Erwin: Die mittelalterlichen Burgen der Altmark. Magdeburg: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt, 1994. Regionale Beispiele aus der Altmark mit Bezug auf Schießscharten und Kellerverteidigung.
- Herrmann, Joachim: Studien zur frühneuzeitlichen Nutzung mittelalterlicher Wehrbauten in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. In: Archäologie in Deutschland, Heft 2 (2001), S. 26–29. Belegt Umnutzungen im 17. Jahrhundert (z. B. Kammern, Dielen, nachträgliche Fensteröffnungen).